Früher, da stieg Franziska Giffey ins Auto oder in den Bus und hastete von einem Bürgertermin zum nächsten. Fast 400 Termine im Jahr, das war ihr Pensum.
Giffey, das war die Frau, die Passanten auf Bürgerterminen ungefragt die Hand hinhielt; die fragte, was sie sich denn so wünschen würden, von den Politikern in Berlin. Kaum jemand beherrscht das Spiel Ich-bin-ein-Normalo-wie-Sie so gut wie Giffey.
Seit drei Jahren ist sie Bundesfamilienministerin, die frühere Bürgermeisterin aus Berlin-Neukölln kam an, auf dem politischen Parkett der Bundespolitik. Als was wurde sie nicht schon gehandelt: Hoffnungsträgerin der SPD, mögliche Vorsitzende, Kanzlerkandidatin. Trotz Plagiatsaffäre ist sie Landeschefin der SPD in Berlin geworden und will im Herbst bei der Abgeordnetenhauswahl den Regierenden Berliner Bürgermeister Michael Müller ablösen.
Es bleibt der Instagram-Kanal
Doch Giffeys Charme lebt vom Ortstermin, und der fehlt jetzt meist in der Krise. Sie kann nicht mehr mit überdimensionalen Schecks vor Mehrgenerationenhäusern posieren und kommt seltener mit Menschen ins Gespräch. Ab und zu gibt sie Interviews, in Talkshows geht sie selten. Wer regelmäßig von ihr hören will, abonniert am besten ihren Instagram-Kanal. Dort ist sie aktiv.
Giffey, das strahlt sie aus, sieht sich eher ungern als Teil der vermeintlichen Hauptstadtblase. An einem Dienstag im März ist sie zu Besuch in einer Jugendbegegnungsstätte auf der Spreeinsel in Berlin, die seit Monaten geschlossen ist. Sie hat mit den Trägern über die Auswirkungen der Krise gesprochen und eine Weiterfinanzierung der Nothilfen versprochen. Sie gibt ein Statement vor der Kamera ab, betont die Wichtigkeit der außerschulischen Jugendarbeit.
Sie ist als Familienministerin hier. Die SPD, für die sie in Berlin eigentlich unablässig werben müsste, erwähnt sie erst auf Nachfrage. Von der außerschulischen Jugendarbeit wirkt sie dagegen ehrlich begeistert. Die Einschränkungen der Krise hätten gravierende Auswirkungen auf Jugendliche, sagt sie, sie bekämen psychische Probleme, vereinsamten.
Giffey findet deutliche Worte. Nur, dass sie kaum jemand hören wird. Es sind nicht viele Medienvertreter zu ihrem Termin gekommen.
Tradiertes Rollenverständnis
Sie hat ja auch nicht immer so deutlich, so entschieden gesprochen in dieser Coronakrise. Lange war wenig von ihr zu hören.
Ausgerechnet die umtriebige Familienministerin wirkte wie abgetaucht. »Die Priorität der Politik lag zu Beginn der Krise mehr bei der Wirtschaft, zu wenig bei den Kindern«, sagt der SPD-Abgeordnete Sönke Rix. Er macht dafür nicht die Ministerin verantwortlich, sondern die Umstände, das tradierte Rollenverständnis in der Bundesrepublik. Giffey ist Mutter, sie arbeitet Vollzeit, sie kommt aus Ostdeutschland, ist also durchaus mit einem anderen Frauenbild als dem der Vollzeit-Hausfrau aufgewachsen.
Ihre Perspektive hätte in der Krise wertvoll sein können, doch sie wurde bis in den Sommer hinein kaum wahrgenommen.
Seit Ende April des vergangenen Jahres fordert Giffey zwar, den Fokus auf Kinder und Jugendliche zu richten und Schul- und Kitaöffnungen prioritär zu behandeln. Aber die Politik der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sowie der Kanzlerin hat sich im Laufe der Pandemie kaum geändert, obwohl Giffey im Regelfall zugeschaltet ist bei den Runden mit den Ministerpräsidenten.
»Ich muss leider sogar sagen, dass es schlechter geworden ist«, sagt die Grünen-Politikerin Anne Spiegel, Familienministerin in Rheinland-Pfalz. Sie hätte sich mehr Fokus auf außerschulische Angebote gewünscht, Kontakte für Kinder, offene Spielplätze. »Kinder kommen quasi nur als Bildungsteilnehmer vor«, sagt sie.
Aber Spiegel lobt Giffeys Krisenpolitik auch. Eine Runde zu Frauenhausplätzen wegen der Häufung häuslicher Gewalt in der Krise habe es schnell gegeben. Spiegel fand das gut.
Giffey hatte im Frühjahr eine Supermarktaktion gestartet, in 26.000 Supermärkten wurde Infomaterial für Gewalt-betroffene Frauen verteilt. In die Supermärkte, so die Überlegung, gehen Frauen auch während des Shutdowns, und auch dann noch, wenn gewalttätige Männer sie eigentlich zu Hause behalten wollen.
Es liegt nicht nur an Giffey, dass sie die Politik in der Krise an vielen Stellen nicht entscheidend mitprägen konnte. Bildung ist Ländersache, es gibt zudem noch das Bildungsministerium, und Kitas werden vielerorts von Kommunen geführt. Besonders in der Krise hatten die Länder viel mitzureden. Der Bund ist manchmal ein Nebendarsteller.
Giffey hat keine klassische Parteikarriere hingelegt, ist spät in die SPD eingetreten. Parteiintern hat sie wenig Seilschaften, keine Truppen. Sie ist eine unkonventionelle Politikerin. Eigentlich gibt es im Parlament und den Fraktionen inoffizielle Wege, die Ministerinnen und Minister befolgen sollten, bevor sie mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit gehen. Sie sollen sich zum Beispiel mit den zuständigen Fachpolitikerinnen abstimmen. Oder mit dem Koalitionspartner. Giffey hält sich daran nicht immer.
Im Februar dieses Jahres schlug sie in der »Bild am Sonntag« eine Kita-Ampel vor, nach der Kitas unabhängig von Inzidenzwerten geöffnet werden sollten. Mit den Ländern, die eine solche Ampel vor Ort einführen müssten, war der Vorstoß offenbar nur unzureichend abgestimmt. Die meisten Länder reagierten skeptisch, nach SPIEGEL-Informationen fand nur Bremen den Vorstoß sinnvoll. Der Stadtstaat hatte eine ähnliche Regelung bereits eingeführt.
Ihre forsche Art kann aber auch erfolgreich sein: Gemeinsam mit Justizministerin Christine Lambrecht erarbeitete sie den Gesetzentwurf für eine Frauenquote in Vorständen. Die Quote war im Koalitionsvertrag nicht vereinbart. Dennoch einigte sich die Regierung Ende des Jahres darauf. Das war dreist, aber wirkungsvoll.
Sie kann ihre Versprechen nicht immer halten
Bei anderen Projekten können Ankündigungen ohne fertige Absprachen problematisch werden. Das beste Beispiel ist das »Gute-Kita-Gesetz«, eigentlich »Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung«. Mit viel Tamtam wurde es Ende 2018 verabschiedet. 5,5 Milliarden Euro will der Bund bis 2022 in die Qualitätsoffensive stecken. In der Aussprache zum Gesetz im Bundestag sagte Giffey damals: »Das Gute-Kita-Gesetz ist eben kein Förderprogramm, aus dem sich der Bund nach ein paar Jahren zurückzieht. Es ist ein Gesetz, das zeigt, dass der Bund seine Verantwortung auch über 2022 hinaus wahrnehmen wird.«
Doch das ist nicht entschieden. Die Finanzierung nach 2022 ist unsicher, im Finanzplan der Bundesregierung aus dem Herbst 2020 sind keine weiteren Mittel über 2022 hinaus vorgesehen.
Laut dem »Paritätischen Gesamtverband« haben sich zwölf Länder entschieden, mit einem Teil der Beträge die Reduzierung der Elternbeiträge für Kitas zu subventionieren. Die familienpolitische Sprecherin der Grünen, Ekin Deligöz, fürchtet ein »teuflisches Erwachen« für die Länder. »Giffey hat versprochen und die Versprechen gebrochen. Aber das wird vielen erst nach der Wahl klar werden«, sagt sie.
Auf Anfrage erklärt eine Sprecherin des Ministeriums, der Bund stehe zu seiner Zusage, sich »auch weiterhin im Bereich, der durch das Gute-Kita-Gesetz umrissen ist, finanziell zu engagieren«. Nun seien »die Länder am Zug, die vertraglich vereinbarten Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität in der Kindertagesbetreuung umzusetzen«, sagte sie. Die Verbesserungen seien »das beste Argument, um eine Verstetigung der Mittel zu erreichen«.
Noch gravierender ist die fehlende Finanzierung bei der Fachkräfteoffensive, die Giffey im Herbst 2019 angekündigt hatte. Um mehr Erzieher und Erzieherinnen auszubilden, wolle der Bund 300 Millionen Euro zusätzlich ausgeben, versprach Giffey. Doch im Januar 2020 wurde eine Stellungnahme auf der Informationsseite der Fachkräfteoffensive »Frühe Chancen« veröffentlicht. Dort hieß es, dass nur 160 Millionen Euro dafür vom Bund bereitgestellt würden: »Weitere Mittel für die Finanzierung eines weiteren Jahrgangs mit Ausbildungsbeginn im Herbst 2020 stehen nicht zur Verfügung.« Inzwischen ist die Stellungnahme wieder von der Seite verschwunden. Die Grünen-Abgeordnete Deligöz erzählt, dass Giffey sich um eine Weiterfinanzierung nicht bemüht habe.
Trotzdem: Bisher hat Giffeys eigener Politikstil der kurzen Gesetzesnamen, der klaren Ansprachen und öffentlichkeitswirksamen Ankündigungen ihr nicht geschadet. An dem Dienstag im März auf der Spreeinsel bei der Jugendbegegnungsstätte hat sie wieder ein Geschenk dabei, die Coronahilfen werden verlängert, die Jugendherbergen bekommen 100 Millionen Euro, so hat es die Bundesregierung wenige Wochen vor dem Termin beschlossen. Liane Kanter, 57, derzeit Geschäftsführerin eines Trägers, steht vor der Ministerin. Der Besuch habe sie »angerührt, wirklich Gänsehaut«, sagt sie zu Giffey.
Giffey macht jetzt wieder mehr Ortstermine. Bis zur Wahl in Berlin sind es noch sechs Monate.
Familienministerin in der Coronakrise: Was macht eigentlich ... Franziska Giffey? - DER SPIEGEL
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