DIE ZEIT: Herr Di Carlo, die Regierung von Giorgia Meloni hat vor, die Bürgergeldzahlungen weitestgehend einzustellen. Wie genau wird das ablaufen?

Donato Di Carlo: Das reddito di cittadinanza (deutsch: Bürgergeld, Anm. d. Red.) wurde in Italien erst 2019 eingeführt. Es wurde an alle ausgezahlt, die arbeitslos waren oder durch eigene Arbeit weniger als 780 Euro monatlich zur Verfügung hatten. Im August wurden die Kriterien bereits strenger definiert, ab Januar wird es stattdessen ein niedrigeres "Inklusionsgeld" für Haushalte geben, in denen Kinder und Senioren leben. Allerdings nur so lange, bis eine arbeitsfähige Person zwischen 18 und 59 Jahren in deren Haushalt ein Jobangebot ablehnt. Für Personen im arbeitsfähigen Alter gibt es nur noch ein "Qualifizierungsgeld": 350 Euro monatlich, ein Jahr lang, und nur, wenn man an Maßnahmen teilnimmt.

ZEIT: Das italienische und deutsche Bürgergeld ähneln sich: Leistungsempfänger müssen sich in Italien ebenfalls ans Jobcenter wenden ...

Di Carlo: ... das war immer die Bedingung für die Auszahlung. Das Jobcenter sollte den Arbeitslosen dann Jobs und Ausbildung vermitteln, am Ende arbeiteten die meisten aber nur für einige Stunden in der Woche – als Schülerlotse zum Beispiel. Das war eher symbolisch. Eigentlich wollte man den Leuten ja helfen, in den richtigen Arbeitsmarkt zu kommen.

ZEIT: Und das hat nicht funktioniert?

Di Carlo: Objektiv betrachtet muss man sagen, dass das Bürgergeld als Instrument für die soziale Inklusion sehr gut funktioniert hat. Das italienische Statistikamt schätzt, dass ungefähr eine Million Menschen während der Pandemie durch die Zahlungen vor der Armut geschützt wurden. Man weiß auch, dass Menschen, die das Geld bekamen, höheres Vertrauen in staatliche Institutionen haben. Aber die Jobcenter haben es nicht geschafft, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen. Es gab schlichtweg nicht genug Jobs, vor allem nicht während der Pandemie, vor allem nicht für Menschen, die wenig oder gar nicht ausgebildet sind. Die meisten Bürgergeldempfänger leben in Süditalien. Das ist eine wirtschaftlich extrem schwache Region.

ZEIT: Das heißt, dass die Abschaffung hauptsächlich den Süden Italiens treffen wird.

Di Carlo: Die wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Norden und Süden besteht in Italien schon seit dem 19. Jahrhundert. Im Norden gibt es viel Industrie, viele Exporte. Im Süden gibt es fast keine Industrie. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Staat versucht, sie dort anzusiedeln, aber das hat nicht funktioniert. Die ganze Wirtschaft des Südens besteht aus lokalem Konsum: Menschen geben ihr Einkommen aus, so entsteht Nachfrage.

ZEIT: Sie selbst sind im Süden Italiens aufgewachsen. Welche Optionen gibt es dort?

Di Carlo: Grob gesagt: Emigration, organisierte Kriminalität, Schwarzarbeit oder Arbeit im öffentlichen Sektor.

ZEIT: Sie selbst sind emigriert und haben acht Jahre lang in Köln geforscht.

Di Carlo: Die meisten Italiener in Köln oder im Ruhrgebiet kommen aus Süditalien. Weil es im Süden so wenige Jobs im privaten Sektor gibt, fungiert der Staat dort als eine Art "Not-Arbeitgeber". Die Gehälter von Angestellten im öffentlichen Dienst sind in Süditalien wirtschaftlich viel relevanter als im Norden; die italienische Politik weiß das. Daraus folgt zum Beispiel: Wenn man die Gehälter von Lehrern erhöht, dann fließt relativ gesehen mehr Kaufkraft in den Süden, denn dort sind die Lebenshaltungskosten geringer, was dann allen hilft. Die Lehrer geben ihr Gehalt aus, so überleben Geschäfte, Restaurants, Dienstleister. Rentenzahlungen und das Bürgergeld haben einen ähnlichen Zweck. Man garantiert Nachfrage in Süditalien.

ZEIT: Und was passiert ab Januar, wenn ein Teil der staatlichen Zahlungen wegfällt?

Di Carlo: Es gibt eine politische und eine ökonomische Dimension. Natürlich kann man die Zukunft nicht exakt voraussagen, aber es ist ziemlich sicher, dass die wirtschaftliche Entwicklung der südlichen Regionen weiter geschwächt wird. Menschen werden weniger Geld haben, der Konsum wird zurückgehen, dadurch wird das Wachstum zurückgehen. Genau das ist 2011 schon einmal passiert, als während der Euro-Krise das staatliche Budget gekürzt wurde. Es gab weniger Jobs, die Gehälter im öffentlichen Dienst stagnierten, der Konsum im italienischen Süden ging zurück. Das Bürgergeld hat diese Entwicklung seit 2019 teilweise ausgeglichen. Wenn es abgeschafft wird, werden viele Menschen leiden, schon jetzt gibt es viel Unzufriedenheit. Eventuell wird es Unruhen geben.

ZEIT: Im August ist ein Mann in ein Rathaus in Palermo eingebrochen, mit einem Benzinkanister, und hat gedroht, alles in Brand zu setzen. Erwarten Sie mehr solcher Szenen?

Di Carlo: Andere Entwicklungen werden sich gleichzeitig verstärken: Mehr Menschen werden auswandern oder in der Schwarzarbeit landen. Es gibt seit Langem einen unausgesprochenen Vertrag zwischen dem Staat und den südlichen Regionen; Unternehmen im Süden zahlen ungefähr ein Drittel weniger Steuern, als sie müssten, und greifen oft auf Schwarzarbeit zurück. Der Staat tut wenig dagegen und lässt sie gewähren – quasi als eine Art Industrie-Subvention, auf Kosten der Arbeitnehmerrechte.

ZEIT: Ist es für die gesamte italienische Wirtschaft denn relevant, ob im Süden Einkommen verloren geht?

Di Carlo: Ich halte es für problematisch, das halbe Land aufzugeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Italiener aus dem Süden in den Norden gezogen und haben in der Industrie gearbeitet. Was sie an Geld übrig hatten, haben sie an ihre Familien im Süden geschickt. Heute zieht man eher ins Ausland; die jungen Leute kellnern in Berlin oder London. Meistens kommen sie nicht zurück.