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Wednesday, August 30, 2023

Ukraine: Entscheidender Durchbruch näher, als viele denken - Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Gastkommentar

Mit den ukrainischen Geländegewinnen an der Südfront steigt der Druck auf die russische Armee. Anders als viele Beobachter denken, hat sie nicht mehr viel Raum im Rücken. Es braucht nur wenig, und die Lage wird für Putins Truppen prekär.

Ukrainische Soldaten in der zurückeroberten Ortschaft Robotine, Ende August 2023.

Ukrainische Soldaten in der zurückeroberten Ortschaft Robotine, Ende August 2023.

Skala / Reuters

Die Niedergeschlagenheit, mit der sich das westliche Kommentariat zurzeit zum Krieg in der Ukraine äussert, ist frappierend. Allerseits heisst es, die Gegenoffensive habe kaum Fortschritte gemacht. Amerikanische Medienhäuser berufen sich auf Geheimdienstkreise; die Lage sei «düster». Es schwinde die Hoffnung, dass die Ukraine ihr (unterstelltes) Ziel erreichen könne, bis Melitopol seien es noch 80 Kilometer.

Diese Einschätzungen sind schlichtweg falsch. Die Analysten der Geheimdienste blicken wohl auf Karten der Südukraine und sehen Distanzen; Armeestäbe hingegen stellen militärische Rechnungen an und gewinnen ein ganz anderes Bild. Sie wissen, dass man keineswegs 80 Kilometer vorrücken muss, um der russischen Armee in ihren Stellungen die Luft abzuschnüren. 15 Kilometer genügen dazu.

Versorgungslinien im Visier

Der Grund dafür? Nun, es wäre zwar grossartig, wenn die ukrainischen Truppen bis zum Asowschen Meer durchbrechen würden. Aber so weit brauchen sie nicht zu kommen. Die Ukrainer würden bereits einen bedeutenden operativen Erfolg erzielen, wenn sie die Hauptversorgungslinie der Russen ins Visier der Artillerie bekämen.

Um den 22. August herum nahmen die ukrainischen Truppen das Dorf Robotine ein, das etwa 90 Kilometer von der Küste entfernt liegt. Angesichts der enormen Anstrengungen der russischen Armee, die Ortschaft zu befestigen und zu halten, bedeutet das einen grossen Erfolg.

Von hier aus müssen die Ukrainer weitere 10 bis 15 Kilometer vorrücken, um ihre Geschütze auf die Ost-West-Routen des russischen Nachschubs zu richten. Diese sind für die Kampffähigkeit der gegnerischen Streitkräfte entscheidend. Sollte es der Ukraine gelingen, die Strassen- und Eisenbahnverbindungen zu unterbrechen, wird es schwer vorstellbar, dass sich die russische Armee in diesem Raum weiter halten kann.

Wie weit die Waffen reichen

Das zu erreichen, wird nicht einfach sein, aber man kann davon ausgehen, dass es gelingen wird. Dazu wird die ukrainische Armee auf Fernwaffen setzen – zunächst die Himars-Raketenwerfer und die Mehrfachraketenwerfer vom Typ M270, deren Reichweite bei 80 bis 90 Kilometern liegt. Später dürfte die 155-mm-Artillerie mit ihrer Reichweite von über 40 Kilometern zum Einsatz kommen. Diese Geschütze sind wesentlich leistungsfähiger als die ukrainische 152-mm-Artillerie sowjetischer Bauart, deren Wirkung auf eine Distanz von 17 bis 20 Kilometern beschränkt ist.

Russlands Versorgungslinie verläuft nicht direkt entlang der Küste des Asowschen Meeres. Sie findet sich weiter landeinwärts und liegt damit näher an den ukrainischen Geländegewinnen. Die in Ost-West-Richtung verlaufende Autobahn M 14, die weitgehend parallel zur Küste verläuft, ist ungefähr 10 Kilometer von der Küste entfernt. Darum herum gruppiert sich der breitere Logistikkorridor, in dem die Russen Nachschub- und Munitionsdepots, Treibstofflager, Kommandoposten höherer Stäbe, Reserveeinheiten und logistische Knotenpunkte positioniert haben.

Dieser Landstreifen wird mit jedem Zentimeter, den die Ukrainer vorwärtskommen, schmaler. Sobald die eben genannten Positionen in Reichweite der ukrainischen Mehrfachraketenwerfer gelangen, steht die russische Führung vor einer für sie unmöglichen Frage: Kann sie westlich von Melitopol operativ handlungsfähig bleiben und Stellungen halten, wenn das gesamte Kampfgebiet inklusive Logistikkette unter Beschuss kommt?

Die Landbrücke fällt

Mit dem Nahen des Winters wird sich die Versorgungssituation westlich von Melitopol wahrscheinlich stetig verschlechtern. Wie vor einem Jahr am Westufer des Dnjepr wird sich selbst Präsident Putin gezwungen sehen, die Realität anzuerkennen – entweder die Armee kämpft weiter und riskiert dabei die Kapitulation grosser Truppenteile, oder sie zieht sich zurück. In jedem Fall wird die sogenannte Landbrücke von Russland zur Krim unterbrochen.

Die russischen Befehlshaber werden also kaum glauben, dass sie 90 Kilometer Raum im Rücken haben, mit dem sie spielen können. Ihr einziger Trost ist, dass die Ukrainer keine Mehrfachraketenwerfer an vorderster Front aufstellen können; diese Einheiten sind äusserst kostbar und müssen von sichereren Positionen, 10 bis 15 Kilometer hinter der Frontlinie, eingesetzt werden.

Der kommende Dominoeffekt

Kommandanten auf beiden Seiten sind sich der einfachen Arithmetik bewusst: Wenn die ukrainische Armee 90 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt ist und die Mehrfachraketenwerfer eine maximale Reichweite von 90 Kilometern haben, aber 10 Kilometer hinter der Frontlinie platziert werden müssen, dann brauchen die Ukrainer weitere 10 Kilometer nach Süden vorzurücken.

Die Ukraine nähert sich diesem Ziel nun an mehreren Stellen entlang der Frontlinie. Der ukrainischen Armee eröffnet sich die Möglichkeit, mit ihrer Raketenartillerie die russische Landbrücke, das Gelände zwischen der Front und dem Asowschen Meer, aus verschiedenen Winkeln zu treffen.

Sobald dies geschieht, wird ein Dominoeffekt eintreten (man entschuldige die abgegriffene Metapher). Alle Ost-West-Verbindungen werden in Reichweite sein. Private russische Transportunternehmen werden ab diesem Zeitpunkt kein Interesse mehr zeigen, ihre Fahrer und die teuren Lastwagen für eine Ladung zu riskieren – nicht für 700 Dollar auf der Strecke Mariupol–Dnipro.

Auf solche Lieferungen setzt der Kreml seit vielen Monaten, und die Regierung zahlt gute Preise. Doch die Gefahr eines Artillerieangriffs ändert die Kalkulation für die Firmeninhaber, der Beschuss bedroht das Leben der Mitarbeiter und birgt das Risiko eines finanziellen Desasters.

Für die russische Armee kommt hinzu, dass ein moderner 18-Meter-Lastwagen 15 bis 30 Tonnen Nachschub transportieren kann. Die Kamaz-Lastwagen der Streitkräfte laden deutlich weniger. Selbstverständlich kann Moskau die Firmen zwingen, die Truppen zu beliefern, oder jene kurzum verstaatlichen. Beides birgt aber das Risiko, die Öffentlichkeit gegen den Kreml aufzubringen.

Wahl zwischen der Krim und der Armee

Es gibt noch weitere Probleme. Wenn die russische Landbrücke durch indirekten ukrainischen Beschuss unterbrochen oder geschlossen würde, könnte die Krim nur noch über die Brücke von Kertsch oder auf dem Seeweg versorgt werden.

Die russische Führung müsste dann zwischen zwei schlechten Optionen wählen: Entweder leidet die Bevölkerung der Krim kommenden Winter unter erheblichen Versorgungsengpässen, oder aber die Armee kommt zu kurz. Die Kapazität der Kertsch-Brücke dürfte kaum ausreichen, gleichzeitig die westliche Front und die Zivilbevölkerung zu versorgen.

All das liegt noch vor uns. In der Zwischenzeit konzentriert sich alles auf die 7 bis 10 Kilometer vor Robotine und andere Frontgebiete. Die Ukrainer kämpfen und sterben. Es liegt am Westen, genügend Artillerie, Munition und Support zu liefern, damit der Job erledigt werden kann.

Jan Kallberg ist Assistenzprofessor an der United States Military Academy in West Point.

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