Seine Weggefährten beschrieben ihn als „netten, aber sehr zurückgezogenen Jungen“. Denys Pyrogovskyy begeisterte sich für Kraftsport. Er spielte aber auch gern Schach. Auch bei Wind und Wetter ging er nur mit einem T-Shirt bekleidet nach draußen. Das härte ab, sagte er. Seine Mitmenschen ließ Denys Pyrogovskyy in Ruhe – und er wollte selbst in Ruhe gelassen werden.
Am 23. Januar dieses Jahres fand das Leben des 23 Jahre alten Ukrainers ein jähes Ende. Er tötete sich selbst. Unter normalen Umständen wäre ein solcher Suizid keine Nachricht. Doch im Fall des Denys Pyrogovskyy waren die Umstände nicht normal. Denn er starb in der Obhut des Staates: als Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Berlin-Tegel. In der Traueranzeige der Gefangenenzeitung „Lichtblick“ heißt es: „Wir nehmen Abschied mit tiefer Trauer und Fassungslosigkeit.“
Zu Suiziden kommt es hinter Gittern immer mal wieder. Die Selbsttötung des Denys Pyrogovskyy beschäftigt die Insassen und die Bediensteten der JVA Tegel dennoch in ganz besonderer Weise: Er starb nicht im normalen Strafvollzug – sondern in der sozialtherapeutischen Anstalt des Gefängnisses, kurz SothA genannt.
Das Ziel der Resozialisierung wird in der SothA mit besonderen Mitteln verfolgt. Die Gefangenen, viele von ihnen Gewalt- oder Sexualstraftäter, einige mit Persönlichkeitsstörungen, werden in Wohngruppen untergebracht. Sie erhalten eine Therapie. Der Staat will die Gesellschaft so vor weiteren Straftaten schützen und den Gefangenen nach ihrer Entlassung eine zweite Chance ermöglichen. Er nimmt sich ihrer in besonderer Weise an – und begleitet sie enger als im normalen Strafvollzug.
Die Nachricht vom Suizid von Denys Pyrogovskyy war vor diesem Hintergrund umso aufwühlender. „So ein Suizid geht an niemanden spurlos vorbei“, sagt der Leiter der JVA Tegel, Martin Riemer, im Gespräch mit WELT. Hinweise, dass die Bediensteten die Tat hätten verhindern können oder Warnzeichen übersahen, gebe es aber nicht: „Ein Fehlverhalten oder dienstaufsichtsrelevante Mängel sind nicht erkennbar.“
Rund zwei Monate nach dem Suizid in einem Besprechungsraum der JVA Tegel im Gefangenentrakt: Es ist ein karg eingerichtetes Zimmer mit Stühlen und Holztischen und einem quadratischen Neonlicht an der Decke. Unter Vermittlung eines Gefangenen und mit Genehmigung der Anstaltsleitung kommt der Reporter von WELT hier mit sechs Insassen der SothA ins Gespräch. Die Männer haben viel zu erzählen. Über das Essen im Knast („meistens widerlich“). Über die Anordnung der Toiletten in ihren Zellen („so nah am Bett, dass ich fast in der Kloschüssel schlafe“). Aber auch über Denys Pyrogovskyy und seinen Suizid.
Keiner der Männer behauptet zu wissen, warum sich ihr einstiger Weggefährte das Leben nahm. Keiner von ihnen behauptet, einer der Bediensteten trage eine Mitschuld an seinem Tod.
Halbnackt vor dem Bediensteten
Sie alle berichten aber, dass Denys sich schwer gedemütigt gefühlt habe. Bei einer unangekündigten Kontrolle seines Haftraums, zwei Tage vor seinem Suizid, habe ein Bediensteter ihn aus dem Bett geholt und ihm keine Gelegenheit gegeben, sich ohne die Anwesenheit des Bediensteten anzuziehen. Erst nackt, dann nur mit einer Shorts bekleidet, habe er in der Zelle vor dem Bediensteten und dann sogar auf dem Zellengang der Anstalt stehen müssen – vor den Augen der anderen Gefangenen.
Einige hätten sich über den Auftritt lustig gemacht, berichten die Männer. Denys Pyrogovskyy sei sehr schamhaft gewesen, das sei in der Anstalt bekannt gewesen. Auf dem Weg zum Duschen sei er, anders als es die meisten Gefangenen machen, vollständig angekleidet gegangen. „Dass er fast nackt da herumstehen musste, das hat ihn daher sehr mitgenommen“, sagt einer der Männer.
Ein Suizid ist in der Regel auf schwerwiegende persönliche und psychische Probleme zurückzuführen. Allein wegen eines einzelnen Vorfalls nimmt man sich nicht das Leben. Den Gefangenen ist das bewusst. Aber nach dem Vorfall wollen sie nicht mehr schweigen. Denn die Zustände in der sozialtherapeutischen Anstalt, so sehen das die Gefangenen, seien unabhängig von dem Suizid generell kritikwürdig.
Die meisten der Männer, die an diesem Tag reden, sind schon seit einiger Zeit in der SothA. Es habe sich viel verändert, sagen sie. Ältere Bedienstete hätten sich in den Ruhestand verabschiedet. Sie hätten Gelassenheit ausgestrahlt, man habe mit ihnen reden können. Von den jüngeren neuen Kollegen würden sich dagegen etliche wie „Möchtegern-Rambos“ und „wie in einem Bruce-Willis-Film“ aufführen. Die Ansprachen seien rüde. Ein „normales Gespräch“ sei kaum noch möglich. Zu den Erfordernissen in einer sozialtherapeutischen Anstalt passe diese Kultur nicht.
Über die wöchentlichen Therapie-Sitzungen berichten die Männer unterschiedliches. „Mir hilft es“, sagt einer. Die Qualität der Gespräche hänge allerdings stark vom jeweiligen Therapeuten ab. Einen Therapeuten beschreiben die Männer als „egozentrischen Narzissten“ und als „machtgeilen Menschen“, der „Minderwertigkeitskomplexe“ habe, „keine Empathie“ empfinde und „selbst eine Therapie“ bräuchte.
„Wir sind alle hier, weil wir Hilfe brauchen, um nicht erneut straffällig zu werden“, sagt einer der Männer. „Aber ganz ehrlich: Bei einigen von uns mache ich mir große Sorgen, weil ich weiß, dass die Therapie, die sie hier bekommen, nichts bringt, und dass sie nach ihrer Entlassung deswegen immer noch gefährlich sein werden.“
Die JVA Tegel ist eines der größten Gefängnisse in Deutschland. Die ersten Gebäude auf dem Gelände wurden bereits 1898 erbaut. Sie sind in die Jahre gekommen, gelten als sanierungsbedürftig und als den Erfordernissen eines modernen Strafvollzugs nicht mehr angemessen.
Kritik an den Haftbedingungen in Tegel wurde schon häufiger laut. Im Februar dieses Jahres kursierte in den sozialen Medien ein im Gefängnis aufgenommenes Video. Darin war zu sehen, wie Insassen sich aus Protest die Arme aufritzten. Sie beklagten „Unterdrückung und Diskriminierung“. Die damalige Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) versicherte daraufhin, für den Strafvollzug ein „niedrigschwelliges Beschwerdemanagement“ etablieren zu wollen.
Martin Riemer nimmt Kritik an den Haftbedingungen ernst – bleibt aber gelassen. Der Leiter der JVA Tegel und die Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt, Johanna Schmid, haben zum Gespräch geladen. Riemer ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass Beschwerden von Gefangenen zum Gefängnisalltag dazu gehören wie die Gitter vor den Zellenfenstern und gelegentliche Ausbruchsversuche.
Es fehlt der Nachwuchs
Riemer wirkt nicht, als wolle er die Zustände in der SothA schönreden. Er spricht von nicht besetzten Stellen und Schwierigkeiten bei der Nachwuchsgewinnung von Vollzugsbediensteten. Von den Räumen, die für den Zweck einer sozialtherapeutischen Anstalt „völlig ungeeignet“ seien. Von der Hoffnung, dass die Politik nach Jahren des Wartens die Mittel für einen Neubau bewilligt.
Riemer macht aber auch klar, wo die Grenzen sind. Gefangene hätten sich gewünscht, am Wochenende auf unangekündigte Kontrollen der Hafträume zu verzichten, weil dadurch ihre Privatsphäre verletzt würde. Die Kontrollen seien aber unverzichtbar. „Wir finden dabei immer wieder illegal eingeschmuggelte Handys, die auch für kriminelle Aktivitäten genutzt werden oder auch mal jugendpornografische Schriften“, sagt Riemer.
Erfahrene Bedienstete träten im Regelfall routinierter und gelassener auf. Jüngere Kolleginnen und Kollegen hielten sich dagegen sehr genau an die Regeln und müssten sich „den erforderlichen Respekt“ verschaffen.
Die Haftraumkontrolle vor dem Suizid von Denys Pyrogovskyy sei umfassend aufgearbeitet worden. Als der Gefangene unbekleidet aus dem Bett stieg, habe der Bedienstete sich umgedreht, die Intimsphäre sei hinreichend gewahrt gewesen, sagt Riemer.
Und der Therapeut, den die Gefangenen als „Narzissten“ beschreiben? Zu einzelnen Personalien könne sie keine Auskunft geben, sagt Johanna Schmid, die Leiterin der SothA. Generell gelte aber, dass die Therapien auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten seien. In Einzelfällen könnten Gefangene den Therapeuten wechseln. „Einen Anspruch darauf gibt es nicht“, sagt Schmid.
Die Gefangenen fühlen sich unterdessen alleingelassen. In dem Gespräch mit dem Reporter wollen sie anonym bleiben, aus Angst vor Repressalien, wie sie sagen. Wenden könnten sie sich unter anderem an den Anstaltsrat der JVA Tegel. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Gremiums sollen als Ansprechpartner für Bedienstete und Gefangene dienen.
In der sozialtherapeutischen Anstalt scheint der Anstaltsbeirat allerdings nicht sonderlich verankert zu sein. Von den Beschwerden, die unter den Gefangenen seit Monaten und teilweise schon seit Jahren kursieren, hat das Gremium nach eigener Aussage bisher nichts mitbekommen. Adelgunde Warnhoff, die Vorsitzende des Anstaltsbeirats, sagt: „Wir werden diesen Beschwerden jetzt nachgehen.“
Strafvollzug in der JVA Tegel: Ein toter Gefangener – und viele Beschwerden - WELT
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