Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms gehen die Evakuierungen weiter. 14 Menschen sind offiziell durch die Flut in Cherson gestorben.
BERLIN taz | „Nein, sie wollen einfach das Haus nicht verlassen, egal, wie viel Wasser in die Wohnung reinkommt“. Ein Fernsehjournalist des russischsprachigen nicht Kreml-nahen Medienportals „Gegenwärtige Zeit“ interviewt Bewohner*innen der südukrainischen Stadt Cherson, die seit Dienstag aufgrund der Zerstörung des Kachowka-Staudamms überflutet ist.
Diesen Satz hört er oft. Trotz Evakuierungseinsätzen von lokalen und internationalen Hilfsorganisationen und trotz spontaner Hilfsnetzwerke von Nachbarn entscheiden sich viele Menschen dagegen, von ihren Häusern wegzugehen. In einem anderen Video ist eine alte Frau zu sehen, die vor ihrer Haustür sitzt und wartet – neben ihr liegen ein paar Taschen, vor ihr läuft das Wasser, als säße sie nicht vor einer Straßenkreuzung, sondern vor zwei Flüssen.
Und plötzlich hört man die Schüsse. Ja, die Evakuierungen sind in der Region Cherson in vollem Gange, aber der Krieg tobt ebenfalls weiter. Ukrainische und russische Behörden werfen sich die ganze Woche vor, trotz Umwelt- und humanitärer Katastrophe, trotz Rettungsaktionen, weiter zu schießen.
Die Stadt Cherson wurde im November von den ukrainischen Streitkräften zurückerobert, die gleichnamige Region bleibt jedoch teilweise besetzt – das rechte Ufer des Flusses Dnepr, wo das Wasserkraftwerk mit dem Kachowka-Staudamm liegt, ist noch von der russischen Armee besetzt, das linke bleibt unter ukrainischer Kontrolle.
Am Freitagmorgen war der Stand 11,7 Meter
14 Tote wurden im Zuge der Kachowka-Katastrophe offiziell von beiden Seiten bestätigt. Der Wasserstand im Kachowka-Stausee ist seit Dienstag auf fast fünf Meter gesunken – 11,7 Meter Stand war es am Freitagmorgen. Laut des ukrainischen staatlichen Wasserkraftwerksbetreibers sinkt das Wasser um etwa einen Meter innerhalb von 24 Stunden.
Über die Ursachen der Zerstörung am vergangenen Dienstag gibt es weiterhin unterschiedliche Versionen. Am Freitag gab der ukrainische Sicherheitsdienst (SBU) bekannt, dass Bewohner aus den besetzten Ortschaften eine russische Sabotagegruppe gesehen hätten, die das Kraftwerk Kachowa am Dienstagfrüh gesprengt hätte.
Das ukrainische Medium pravda.ua zitiert einen angeblichen russischen Militär des rechten Ufers, ohne seinen Namen zu erwähnen, der in einer Aufnahme zu hören sei: „Unsere Sabotagegruppe war dort – sie wollte die Menschen damit erschrecken. Der Plan wurde nicht vollständig umgesetzt, es war viel mehr geplant.“ Eine internationale unabhängige Untersuchung soll die unklaren Umstände klären, denn die russische und die ukrainische Regierung beschuldigen sich gegenseitig.
Russland berichtet über „Flut“ und „Überschwemmungen“
Das unabhängige russische Medium Meduza, das seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Exil sitzt, hat Informationen von Kreml-nahen Informanten bekommen, dass das russische Präsidialamt offiziell keine klare Empfehlungen gesendet habe darüber, wie die staatlichen und Kreml-treuen Medien über die Katastrophe berichten sollen. Die staatlichen Kanäle beschreiben die Lage in Cherson als „Flut“ und „Überschwemmung“.
Am Freitag in Moskau sprach der Kreml-Sprecher Dmitry Peskow mit Journalist*innen darüber und nannte erneut einen ukrainischen Beschuss als Ursache. „Sie wissen, dass es infolge dieses Beschusses Tote unter den Flutopfern gegeben hat. Es gab sogar eine schwangere Frau“, betonte Peskow. Auch am Freitag in Moskau erklärte das Präsidialamt, dass drei Menschen in der russischen Stadt Woronesch, circa 180 km von der ukrainischen Grenze entfernt, bei einem Drohnenangriff leicht verletzt wurden – die Quelle sei der russische Sicherheitsdienst.
Russische Behörden meldeten am Freitag Gefechte auch in der südukrainischen Region Saporischschja, wo Europas größtes Atomkraftwerk liegt, und das auch die Folgen der Kachowka-Katastrophe erleidet. Am Donnerstagabend hieß es vom AKW-Betreiber, dass das Wasser aus dem Stausee doch nicht mehr für die Kühlung von Saporischschja reiche.
Der Einsturz des Kraftwerks am Dienstag hat schwere Umweltschäden verursacht, landwirtschaftlich genutzte Felder entlang des Dnepr wurden weggespült, und es besteht die Gefahr, dass der Nordkrim-Kanal verlandet. Nach Angaben der russischen Regierung, die die staatliche Agentur tass veröffentlicht, sei die Wasserversorgung der Krim-Halbinsel durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms nicht beeinträchtigt worden, weil die Reserven der Krim noch voll seien und die Vorräte für 500 Tage reichen würden. Im Jahr 2014 hat Russland die Halbinsel Krim, im Schwarzen Meer, völkerrechtlich annektiert.
Evakuierung und Beschüsse in Cherson: „Viele wollen gar nicht gehen“ - taz.de
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