Wer zu Arne Dietrich kommt, hat oft schon einen langen Leidensweg hinter sich. Der Chirurg operiert Menschen mit Adipositas, die auf anderem Weg nicht genug abnehmen können. Der Eingriff erfordert einige Vorbereitung und verändert das Leben der Patientinnen und Patienten tiefgreifender, als viele ahnen. 



ZEIT ONLINE: Herr Dietrich, ein Viertel der Deutschen trägt viel zu viel Gewicht mit sich herum. Viele probieren Diäten aus, treiben Sport, aber scheitern. Warum?

Arne Dietrich: Generell gilt schon, wer abnehmen will, muss Ernährungsumstellung und Sport kombinieren. Aber gerade bei ausgeprägter Fettleibigkeit reicht das nicht mehr. Aus eigener Kraft kommen nur die wenigsten von dem hohen Gewicht runter. Übersteigt der Body-Mass-Index eines Patienten die 35 – beispielsweise bei einem Mann, der 1,85 Meter groß ist und mehr als 120 Kilo wiegt –, ist das Abnehmen mit herkömmlichen Mitteln für die meisten aussichtslos. Da helfen nur operative Eingriffe.

ZEIT ONLINE: Warum ist der Effekt, der sich über Ernährung und Sport erzielen lässt, zu gering?

Dietrich: Wir reden hier über drei bis fünf Kilo weniger. Der Durchschnitt der Patienten, die wir in Deutschland operieren, hat aber einen Body-Mass-Index von 51. Sie müssten also deutlich mehr abnehmen. Und das gilt für viele: Ein Viertel der Bevölkerung ist adipös. Und wenn man vor allem auf Bewegung setzt, stößt man auch an Grenzen: Viele unserer Patienten sind alt und krank. Die können nicht so stramm Sport machen, wie es für eine effektive und dauerhafte Gewichtsreduktion nötig wäre. 

 

ZEIT ONLINE: Warum schlagen Diäten nicht an?

Dietrich: Starkes Fasten zum Beispiel reduziert den Grundumsatz des Körpers und das führt dazu, dass jede Folgediät immer schwerer wird. Kaum essen zu dürfen, ist außerdem eine extreme Einschränkung der Lebensqualität. Unser Gehirn will Endorphine ausschütten und das passiert eben, wenn wir essen. 

ZEIT ONLINE: Wie kann eine Magenoperation bei schwerem Übergewicht helfen?

Dietrich: Es gibt zwei dominierende Eingriffe in der Adipositas-Chirurgie, die beide nachweislich zu einer starken und nachhaltigen Gewichtsabnahme führen. Das eine ist der Schlauchmagen, da entfernt man den Großteil des Magens, um daraus einen daumenstarken Schlauch zu machen. Das andere ist der Magen-Bypass, da verkleinert man ebenfalls den Magen, schließt ihn dann aber auch mit dem Dünndarm kurz. Dadurch kommt es zu hormonellen Veränderungen im Magen-Darm-Trakt. 


ZEIT ONLINE: Es ist also mehr als nur eine Magenverkleinerung?

Dietrich: Viel mehr. Der Eingriff stößt sehr komplexe Veränderungen im Körper an. Sogar kognitive Hirnfunktionen – also Lernfähigkeit und Informationsverarbeitung – können sich nach der Gewichtsreduktion verbessern. Forscher gehen davon aus, dass dies mit hormonellen und nervalen Veränderungen sowie mit Botenstoffen aus dem Magen-Darm-Trakt zusammenhängt. Und, was ganz wichtig ist und für beide Eingriffe gilt: Nach einer Magenoperation haben die Patienten eine höhere Lebensqualität und eine längere Lebensdauer.

ZEIT ONLINE: Wenn Magenverkleinerungen so erfolgreich sind, warum reden dann so wenige Menschen darüber?

Dietrich: Weil es für die Betroffenen mit einem Stigma verbunden ist. Viele Menschen halten Adipöse für dumm, willensschwach und gefräßig. Und dann denken sie: Du musstest dich operieren lassen, weil du es mit einer Diät nicht hinbekommen hast. Nach dem Motto: Da hast du es dir ja wieder einfach gemacht. Deshalb war es von Reiner Calmund sehr mutig, öffentlich über seine Magenverkleinerung zu reden. Es gibt aber auch andere prominente Menschen, Politiker zum Beispiel, von denen man sich erhofft hätte, dass sie offen darüber sprechen.

ZEIT ONLINE: Wer zum Beispiel? 

Dietrich: Das möchte ich nicht sagen. Aber ich kann Ihnen sagen, dass das Stigma auch uns operierende Ärzte betrifft: Uns wird unterstellt, dass wir Geld aus dem Gesundheitssystem für Operationen verwenden, die nicht unbedingt nötig wären.

ZEIT ONLINE: Warum hält sich diese Vorstellung so hartnäckig?

Dietrich: Weil weite Teile der Bevölkerung nicht verstehen, dass Adipositas eine chronische Erkrankung ist. Das gilt wiederum auch für Teile der Ärzteschaft: Viele betrachten es einfach als schlechten Lebensstil, den die Betroffenen ändern können.

"Krankenkassen arbeiten aktiv dagegen an, die Kosten zu übernehmen"

ZEIT ONLINE: Wie gehen andere Länder mit dem Problem der Fettleibigkeit um?

Dietrich: Die Adipositas-Chirurgie ist der weltweit häufigste größere bauchchirurgische Eingriff. Unsere Nachbarländer Schweiz, Österreich oder auch die Skandinavier haben weniger Einwohner mit Adipositas als wir, dennoch führen sie pro Kopf der Gesamtbevölkerung fünf- bis zehnmal so viele Operationen durch. Der Eingriff hat in anderen Ländern also einen ganz anderen Stellenwert als hierzulande. Das liegt auch an den deutschen Krankenkassen. Einige arbeiten aktiv dagegen an, die Kosten für die OP zu übernehmen. Und sie setzen Mythen in die Welt von verstümmelnden oder nicht umkehrbaren Eingriffen. Was pauschal falsch ist – denn zum Beispiel kann man jeden Magen-Bypass wieder zurückbauen.

ZEIT ONLINE: Muss ich vor der Operation beweisen, dass ich versucht habe, abzunehmen?

Dietrich: Bislang ist es teilweise so, ja. Der Patient muss belegen, dass er sich mindestens sechs Monate lang einem Therapieprogramm mit Sport, Verhaltensumstellung und Diät unterzogen hat. Die Fachgesellschaften stellen den Nutzen aber infrage, das könnte sich also in den nächsten Jahren ändern. Und es gibt schon heute die sogenannte Primärindikation, da steht die Operation an erster Stelle – da müssen Patienten zuvor kein Programm absolvieren. Dies gilt beispielsweise für Adipöse mit einem BMI von über 50 oder bei Patienten, wo eine schnelle Gewichtsreduktion aus medizinischen Gründen erforderlich ist. Auch bei Menschen mit Typ-2-Diabetes und einem BMI von mehr als 40 ist die OP sofort empfohlen.

ZEIT ONLINE: Warum zweifeln die Fachgesellschaften an, dass die übrigen Patienten als Bedingung vorher auf anderem Wege versuchen sollten, Gewicht abzunehmen?

Dietrich: Weil das eben meist nicht zur gewünschten Gewichtsabnahme führt. So gesehen ist es eine Ressourcen- und Zeitverschwendung, auch gesamtgesellschaftlich. Seit Kurzem gibt es eine neue Leitlinie von zwei internationalen Fachgesellschaften, in der beide empfehlen, keine konservative Therapie mehr vor der Operation einzufordern. Gut möglich, dass das bei uns in zwei Jahren auch so sein wird. 

ZEIT ONLINE: So oder so: Man kann sich nicht einfach schnell unters Messer legen, um dünn zu werden, oder?

Dietrich: Nein, so schnell geht es nicht. Wer sich operieren lassen möchte, muss vorher eine Internistin, einen Ernährungstherapeuten, eine Psychologin und einen Chirurgen gesehen haben. Wenn es sich um metabolische Eingriffe bei Patienten mit Typ-2-Diabetes handelt, kommt noch der Diabetologe dazu. Drei bis fünf Monate Vorlauf sollte man einplanen. Die Patienten müssen auch ihre Ernährung zugunsten der Operation umstellen, um zu zeigen, dass sie psychisch in der Lage sind, sich später, nach dem Eingriff, an neue Ernährungsregeln zu halten. Adipositas ist eine lebenslange Erkrankung – die Operation ist zwar ein wichtiger, aber nur ein Schritt.

ZEIT ONLINE: Warum muss man einen Psychologen gesehen haben?

Dietrich: Es geht zum Beispiel darum, abzuklären, dass keine Essstörungen bestehen. Eine unbehandelte Binge-Eating-Störung etwa würde gegen eine Magenverkleinerung sprechen, da bei unkontrolliertem Essen nach der Operation etwa die Nähte reißen könnten. Zudem soll die Psychologin einschätzen, ob vom Patienten eine verbindliche Mitarbeit zu erwarten ist. Psychische Erkrankungen wie Depression oder schizophrene Zustände müssen vorher ebenso bekannt sein.

ZEIT ONLINE: Muss ich mich dafür an einen bestimmten Psychologen wenden?

Dietrich: Am besten an einen, der im Adipositas-Zentrum arbeitet. In Deutschland gibt es etwa 80 bis 90 zertifizierte Zentren und die arbeiten eng mit Psychologen zusammen. Da wird man automatisch vermittelt.

ZEIT ONLINE: Angenommen, ich lasse mich operieren – wie lange muss ich danach in der Klinik bleiben?

Dietrich: Normalerweise drei Tage. Danach gilt man in der Regel zwei Wochen als arbeitsunfähig. Da die Operationen mit der Knopfloch-Chirurgie gemacht werden, kann die Mehrheit der Patienten nach drei Wochen wieder arbeiten oder Sport treiben. 

ZEIT ONLINE: Müssen Patienten nach dem Eingriff ihr Essverhalten umstellen?

Dietrich: Ja. Sie sollten ausgewogen essen. Wir empfehlen ihnen eine eiweißreiche Diät mit möglichst viel Gemüse. Zudem müssen sie nach der Operation Vitamintabletten mit Spurenelementen zu sich nehmen, weil der Körper diese bei Bypässen teilweise aus der Nahrung nicht mehr so gut aufnehmen kann. Dies soll auch in der Nachsorge durch regelmäßige Laborkontrollen überprüft werden, um bei einem Mangel zeitig gegenzusteuern. 

Für immer dünn?

ZEIT ONLINE: Was gilt es bei der Nachsorge noch im Blick zu behalten?

Dietrich: Die Psyche der Betroffenen. Wenn jemand schon vor der Operation Depressionen mit selbstschädigenden Handlungen aufwies, dann ist nach dem Eingriff das Risiko erhöht. Und Medikamente für Bluthochdruck oder Diabetes müssen hinterher angepasst werden. Denn mit dem Gewichtsverlust sinkt auch der Blutdruck automatisch. Und ein Typ-2-Diabetes geht meist unmittelbar mit der Operation zurück. Alkohol kann dagegen nach dem Eingriff ein Problem sein: Mit einem Bypass wird man schneller betrunken, weil der Alkohol schneller in den Dünndarm gelangt.

ZEIT ONLINE: Dann hat der Eingriff weitreichende Folgen für das Leben danach?

Dietrich: Ja. Für die meisten Patienten verbessert sich die Lebensqualität deutlich. Aber vieles verändert sich, über das man sich vorher vielleicht gar keine Gedanken gemacht hat. Manchmal gehen sogar Beziehungen in die Brüche, weil sich für den einen Partner plötzlich das Leben ändert. Das kann zu psychischen oder familiären Problemen führen. Auch die Suizidalität ist nach einer Magenverkleinerung etwas erhöht, die Ursachen sind noch unklar, in Studien werden als Risikofaktoren psychische Erkrankungen vor der Operation und finanzielle Probleme beschrieben. Menschen mit Adipositas haben generell ein höheres Risiko für psychische Leiden, das ändert sich nach einer OP nicht immer. 

ZEIT ONLINE: Bleibt man nach dem Eingriff immer dünn?

Dietrich: Die Patienten verlieren langfristig 50 bis 70 Prozent ihres Übergewichts. Es gibt zwar Menschen, die später wieder in alte Verhaltensmuster zurückfallen, zum Beispiel wegen einer Kündigung, Trennung oder Nachtschichten. Aber durch die Verkleinerung des Magens und die komplexen hormonellen Umstellungen ist das selten. Für den Magen-Bypass gibt es mittlerweile Studien mit größeren Patientenzahlen, die über 15 bis 20 Jahre laufen. Hier sehen wir ganz klar, dass der Effekt der Operation wirklich lange anhält. 

Langfristig ist eine gewisse Gewichtssteigerung völlig normal, da sich mit dem Alter Bewegung und Energiebedarf verringern, und zugleich die Nahrungsaufnahme wieder etwas zunehmen kann, weil etwa der Schlauchmagen mit der Zeit aufgedehnt wird. 

ZEIT ONLINE: Gibt es einen Zeitpunkt im Leben, an dem es zu spät ist für eine Magenverkleinerung?

Dietrich: Es gab in früheren Leitlinien mal eine Altersbegrenzung bis 65. Die gibt es aber nicht mehr. Der älteste Patient, den ich operiert habe, war 82, und der kam nach drei Monaten als glücklicher Mensch wieder und hat sich darüber geärgert, dass er die Operation erst so spät hat machen lassen. In diesem Alter geht es weniger darum, die Lebenserwartung zu normalisieren, sondern darum, die Lebensqualität zu verbessern. Auch die Pflege wird erleichtert: Es macht einen Unterschied, ob ich einen Menschen mit 100 oder 180 Kilo betten und zur Toilette bringen muss.

ZEIT ONLINE: Sie erwähnten, dass die Krankenkassen mitunter Probleme machen. In welchen Fällen übernimmt die Kasse die Kosten der Adipositas-Chirurgie?

Dietrich: Die meisten Patienten bekommen den Eingriff bezahlt. Früher mussten die Betroffenen oder die Kliniken Kostenübernahme-Anträge stellen. Das ist besser geworden. Aber noch immer zahlen die Kassen einen bestimmten Prozentsatz der Behandlungen nicht. Und auch mit der Nachsorge der OP ist es schwierig: Manche Kassen gewähren eine Finanzierung der Nachsorge für zwei Jahre, die meisten gar nicht. Wir hoffen, dass sich das verbessert, denn die Nachsorge ist genauso wichtig wie die Operation. Die Krankenkasse muss sich letztlich auch an die Leitlinien halten. Im schlimmsten Fall landet ein Streit vor dem Sozialgericht, das meistens zugunsten der Patienten entscheidet.