In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
»Es fühlt sich nicht gut an, einen Stein zu schmeißen. Ich habe es getan. Nicht um etwas zu zerstören, sondern um unsere Freiheit für einen kurzen Moment länger zu verteidigen.«
Wenn Parisa Sadeghi spricht, reibt sie sich manchmal die Augen. So, als müsste sie kurz innehalten, sich orientieren, oder vor Müdigkeit wieder konzentrieren. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in einer deutschen Großstadt, draußen vor dem Fenster laufen ältere Männer mit Dackeln vorbei. Drinnen, in einer unauffälligen Wohnung, stehen schwarzer Tee und ein Teller Kekse auf dem Tisch, an der Wand hängt ein Bild von Schopenhauer. Es ist keine zehn Tage her, da stand Sadeghi in Teheran in der Mitte eines Kreisverkehrs und rief »Frauen! Leben! Freiheit!« Es ist der Schlachtruf der aktuellen Proteste.
Iranische Demonstrantinnen flüchten nach Straßenprotesten vor den Sicherheitskräften des Regimes
Foto:STR / EPA
Seitdem am 16. September die Studentin Jina Mahsa Amini in Obhut der iranischen Sittenpolizei starb, kommt das Land nicht zur Ruhe. Das Regime unterdrückt sämtlichen Widerstand mit Gewalt, selbst auf Kinder und Jugendliche wird jetzt geschossen, laut NGOs starben bislang mehr als 200 Menschen. Detaillierte Berichte von vor Ort sind nur schwer zu bekommen. Ausländische Journalisten werden nicht ins Land gelassen, soziale Netzwerke und Internetseiten immer stärker zensiert – und viele Menschen haben Angst zu sprechen.
DER SPIEGEL hat in den vergangenen Tagen mithilfe von Verschlüsselungssoftware, Sprachnachrichten und am Telefon bereits mehrere Berichte aus dem Land veröffentlicht, die Anatomie des Aufstands ausführlich erklärt. Parisa Sadeghi kann diese Geschichten mit ihrer eigenen Perspektive ergänzen, die eine besondere ist: Als eine von wenigen Protestierenden befindet sie sich in Sicherheit, sie kann frei und in Ruhe über ihre Erfahrungen in den vergangenen Wochen in Iran berichten. Nachprüfen lassen sich ihre Berichte nicht, sie decken sich jedoch mit den Beschreibungen anderer Gesprächspartnerinnen. Zu ihrem eigenen Schutz ist ihr Name dennoch geändert.
»Ich bin Ende September nach Iran gereist, um meine Familie zu besuchen. Meine Eltern sind dort, die ganze Familie lebt in Teheran, auch Freunde. Als ich landete, war Jina Amini keine Woche tot. Schon auf dem Weg in die Stadt waren überall Graffiti gegen das Regime zu sehen, viele Frauen liefen ohne Hidschāb durch die Straßen. Früher wurde die Kopftuchpflicht selbst in Autos mit Kameras kontrolliert. Wer erwischt wurde, musste ein Bußgeld zahlen. Jetzt ignorieren viele Frauen die Mahnungen einfach. Noch am ersten Abend bin ich auf die Straße.«
Parisa Sadeghi ist 27. Sie gehört einer Generation an, die mit Protesten gegen das Regime aufgewachsen ist. Es ging um gefälschte Wahlen, Grundrechte, die wirtschaftliche Not. Jetzt geht es um all das zusammen, ganz besonders aber die Rechte von Frauen. Ihr Freund stammt ebenfalls aus Iran. Zu Beginn des Gesprächs fragt er höflich, ob er sich dazusetzen dürfe. Während der folgenden drei Stunden wird er nicht viel sagen, meist nur interessiert zuhören. Er ist studierter Ingenieur, in Deutschland hat er sich einer feministischen Gruppe angeschlossen, er sagt, die Lage in seinem Heimatland habe ihn politisiert.
Iranische Schülerinnen zeigen nach dem Tod mehrerer junger Frauen mit dem Mittelfinger auf die Tafel. Darauf steht: »Islamische Republik« und »Fuck you, Khamenei«
Foto:SalamPix / Abaca Press / ddp
»Mein Freund sagt immer: Das iranische Schiitentum ist das beste Programm, um Menschen zu Atheisten zu machen. Ich denke, es gibt wenige islamische Länder, in denen so viele Menschen den Glauben aufgeben wie in Iran. Wir sehen wie im Alltag jedes Unrecht mit der Religion begründet wird. Wir sehen, wie damit gelogen wird. Wie soll man da noch ehrlich religiös sein? Als ich neun war, sagte mein Vater zu mir: Ich glaube nicht mehr an Gott. Als ich elf war, brachte man mir bei, dass ich den Hidschāb tragen muss. Mit 17 spürte ich zum ersten Mal Tränengas. Mit 18 bin ich dann fürs Studium ins Ausland. Ich wollte nicht abhauen, einfach nur leben. Iran ist auch heute noch mein Land.«
Sadeghi erzählt, wie ihre Mutter sie und ihren jüngeren Bruder zu den Protesten begleitet habe, um sie zu beschützen. Aber auch aus eigener Wut. Bereits am ersten Abend wurden sie mit Gummigeschossen attackiert, Frauen in der Nachbarschaft gewährten ihnen Zuflucht in ihren Wohnungen.
»Selbst das Tränengas ist schärfer geworden. Es verklebt die Augen. Bald darauf muss man sehr stark husten. Irgendwer hat erzählt, dass das Inhalieren von Rauch gegen die Reizung hilft. Deshalb gibt es jetzt überall kleine Feuer. Wir haben immer Zigaretten geraucht. Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas nützt.«
Protestierende entzünden bei Protesten ein Feuer, NGOs berichten von mehr als 200 Toten
Foto: STR / EPAJeden Abend um sechs ziehen sie los
Die Proteste im Land sind ungelenkt, bislang gibt es keine klare Struktur, keine Organisatoren. Die Menschen protestieren von allein. Es sind keine Großveranstaltungen, sondern viele kleine spontane Aktionen im ganzen Land. Es gibt nur einige ungeschriebene Regeln: keine Handys. Nicht allein sein. Keine verdächtigen Gegenstände mitbringen. Jeden Abend um sechs ziehen sie los.
Das klandestine Vorgehen ist Selbstschutz, aber auch eine Konsequenz der vergangenen Jahre. Während seines Studiums in Teheran seien nach den letzten Protesten selbst die studentischen Institutsgruppen abgeschafft worden, sagt Sadeghis Freund. »Sie misstrauen allen. Uns Jungen besonders. Bereits das Benennen von Umweltproblemen gilt als Störung der öffentlichen Ordnung.«
Auch umgekehrt ist die Angst groß. Sadeghi kennt die Brutalität des Regimes, sie hat sie in den vergangenen Wochen fast täglich hautnah erlebt. Bei den ersten Protesten seien bereits scharfe Schüsse gefallen, mit einer Munition, die sie bislang nicht kannte. Mit ihrem Daumen und Zeigefinger formt sie einen Kreis, um zu zeigen, womit die Polizei vor ihren Augen auf 15-jährige Mädchen schoss. Es war Schrot. Viele der Verletzten hätten inzwischen Angst den Notruf zu wählen, erzählt Sadeghi.
»Das Regime nutzt auch Rettungswagen und Feuerwehrautos, um Oppositionelle zu verschleppen. Nach einer Kundgebung hat mein Bruder einem Mädchen die Kugeln aus dem Körper entfernt, weil sie Angst hatte, im Krankenhaus nicht behandelt, sondern verhaftet, gefoltert oder vergewaltigt zu werden. Mein Bruder ist kein Arzt. Ein Bekannter hat ihm am Telefon gesagt, wie man das macht.«
Iranische Sicherheitskräfte patrouillieren in Teheran
Foto: - / AFPDie Proteste seien chaotisch und ermüdend, sagt Sadeghi. An den meisten Orten habe man vielleicht 20 Minuten, ehe man vor Polizei und Milizen flüchten müsse. Die kleinen Feuer, die auf vielen Fotos zu sehen sind, seien natürlich ein Zeichen des Zorns. Aber oft auch ein verzweifelter Versuch, die Sicherheitskräfte mit ihren Knüppeln und scharfen Waffen fernzuhalten. Genauso wie Steinwürfe. Sadeghi erzählt, dass auch sie sich daran beteiligt habe.
»Als ich einen Stein geworfen habe, war ich keine Heldin. Ich hatte noch immer schreckliche Angst. Nur die Wut hat mich dazu gebracht.«
Laut Amnesty International erhielten die Behörden bereits früh die Anordnung, mit aller Härte vorzugehen. Umgekehrt gebe es bis heute keinen einzigen Fall von Gewalt seitens der Protestierenden, der Schusswaffengebrauch legitimiere.
»Als wir auf die Demonstrationen gingen, bat meine Mutter uns, auf den Sohn einer Freundin aufzupassen. Er ist erst 18. Irgendwann jedoch mussten wir fliehen und verloren ihn. Zwei Stunden lang hörten wir nichts von ihm. Wir hatten große Angst, auch um unsere Sicherheit, weil meine Mutter ihm ihren Autoschlüssel gegeben hatte. Später erfuhren wir, dass die Polizei ihn festgenommen hatte. Noch im Auto begannen sie ihn zu schlagen. Immer wieder auf den Kopf, die Ohren. Er wurde als Hurensohn beschimpft. Auf der Wache wurde er mehrfach verhört. Die Beamten suchten Gründe, ihn länger wegzusperren. Als er standhielt, kam er in eine Zelle mit elf anderen Jungen. Dort mussten sie über Nacht ausharren. Am nächsten Morgen warf jemand ihnen ein paar Scheiben Käse auf den Boden. Sie wurden wie Hunde behandelt. Man konnte die Striemen der Kabelbinder an seinen Händen später noch lange sehen. Schließlich wurden er und die anderen noch einmal verlegt und dann mit einem weißen Minibus aus der Stadt gebracht und an der Autobahn ausgesetzt. Vorher musste er noch unterschreiben, dass er nicht wieder protestiert. Solche Schreiben verlangen sie von allen. Er geht jetzt nicht mehr auf Demonstrationen. Dafür sprüht er nachts allein Graffitis. Den Schlüssel hat meine Mutter nie abgeholt, die Angst ist zu groß.«
Demonstration für die Solidarität mit den Frauen in Iran am 22. Oktober in Berlin
Foto: Maja Hitij / Getty ImagesSadeghi sagt, dass sie sich oft frage, wofür sie überhaupt studiere, wie ihre Zukunft aussehe. Sie würde am liebsten zurück in ihre Heimat, doch als Psychologin könnte sie unter dem Mullahregime nicht arbeiten. Es gibt eine eigene systemkonforme »islamische Psychologie«, sie könnte höchstens unter der Hand reiche Iraner privat behandeln. Für sie ist das keine Option.
»Ich würde gern in der Traumabehandlung arbeiten. Es gibt noch immer viele Kinder, die auf der Straße leben oder bereits arbeiten. Viele sind seelisch verletzt. Niemand hilft ihnen. Das Regime lockt sie zu den Basidsch-Milizen. Früher im Krieg hat man sie als menschliche Schutzschilde missbraucht oder um mit ihrem Körper Minen zu sprengen. Heute rekrutiert die Regierung aus ihnen die Schläger. Ich stelle mir oft vor, wie ich diesen Jugendlichen helfe, ihre Verletzungen zu überwinden.«
Auch jetzt werden die Basidsch-Milizionäre eingesetzt, um die Proteste zu ersticken. In Teheran kursieren Gerüchte, dass inzwischen wieder 15-Jährige von den Straßen rekrutiert würden, um die Reihen aufzufüllen. Andere Sicherheitskräfte stünden unter Zwang, sagt Sadeghi.
»Das System prügelt um sein Überleben. Aber ich habe manchen angesehen, dass sie müde sind. Einmal hat ein Verkehrspolizist in die Luft gehauen, um keine Frauen schlagen zu müssen.«
Sie habe lange überlegt, länger zu bleiben, erzählt Sadeghi. »Ich habe viel geweint.« Ihre Mutter habe sie schließlich ermuntert, ihr Studium in Deutschland fortzusetzen. Sie sagt, sie wisse, wie privilegiert sie damit sei. Hier in Deutschland sieht sie es als ihre Pflicht, den Protest weiter zu unterstützen. Bei der Arbeit in ihrem Forschungsprojekt sei sie jetzt oft abgelenkt, täglich kursieren neue Videos von mutigen Schülerinnen und jungen Frauen.
In den vergangenen Tagen war Parisa Sadeghi auch in Deutschland demonstrieren, ihr Freund hat mit Aktivistinnen vor der Grünen-Zentrale übernachtet. Als größter Handelspartner des Regimes in Europa müsse die Bundesrepublik mehr tun, finden sie. Doch selbst wenn, welche Chance hat der Protest?
»Ich fürchte, dass es noch nicht reichen wird, um das Regime jetzt zu stürzen. Aber in Wahrheit haben sie keine Chance. Sie verlieren täglich, niemand vertraut ihnen seine Zukunft mehr an. Der jetzige Protest bringt Frauen, Kurdinnen, Arme und junge Studenten zusammen. Das ist neu.«
Über WhatsApp und Sprachnachrichten auf Telegram hält Sadeghi Kontakt zu Freundinnen und ihrer Mutter. Um sie zu schützen, haben sie sich einen Trick ausgedacht: Statt von den Protesten schreiben sie übers Einkaufen. »Warst du heute in der Stadt?«, fragt Sadeghi dann. Und ihre Mutter antwortet, wo sie war. In den vergangenen Tagen ging sie oft einkaufen.
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.
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