Interview | Ersatzfreiheitsstrafen - "Viele Betroffene werden einfach eines Tages festgenommen"
Wer eine Geldstrafe bekommt und sie nicht zahlt, kommt in Haft. Das trifft vor allem Menschen am Rande der Gesellschaft, die häufig arm, wohnungs- und arbeitslos sowie oftmals psychisch krank sind, wie Anja Seick von der Freien Hilfe Berlin erklärt.
rbb|24 Guten Tag, Frau Seick, Ersatzfreiheitsstrafe heißt, dass man eine verhängte Geldstrafe nicht bezahlen kann oder will und stattdessen ins Gefängnis muss. Wer ist im Regelfall von solchen Ersatzfreiheitsstrafen betroffen?
Anja Seick: In der Regel sind davon Leute betroffen, die nicht in der Lage sind, solche Geldstrafen zu bezahlen. Ich sage deshalb "in der Regel", weil es durchaus auch Menschen gibt, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, die rein theoretisch in der Lage wären, die Geldstrafe zu bezahlen, die das aber nicht wollen. Das sind dann, auch wenn es nicht viele sind, sogenannte "Reichsbürger".
Der große Teil derer, die solche Freiheitsstrafen verbüßen, sind jedoch Menschen, die Armutsdelikte begangen haben und die Aufgrund ihrer Armut nicht in der Lage sind, die Geldstrafen zu bezahlen. Meistens sind das Menschen mit multiplen Problemlagen. Das heißt, sie sind oftmals wohnungslos, psychisch eingeschränkt und sie haben oft körperliche Schwierigkeiten. Oft sind sie gar nicht mehr arbeitsfähig. Wenn überhaupt sind sie Leistungsbezieher nach SgB2 – also ALG-II-Leistungsempfänger. Wobei wir auch viele Menschen hier haben, die nicht darunter fallen, weil sie EU-Migranten aus Mitgliedstaaten sind, die keine Leistungen hier beziehen können, weil sie sich den Anspruch hier noch nicht erarbeitet haben.
Sie sagten, die meisten von ihnen haben Armutsdelikte begangen. Welche Delikte sind das?
Das sind Delikte wie Ladendiebstahl. Da klaut sich jemand die Flasche Wodka, die er trinkt, weil er suchtkrank ist. Oftmals sind es auch Schwarzfahrer – die sich so Leistungen erschleichen. Viele begehen auch Beleidigungen oder Widerstand. Das sind die Delikte, die meist mit Geldstrafen geahndet werden, weil ein Gericht nicht auf die Idee kommt zu sagen, wegen dieser Tat müsse jemand ins Gefängnis. Das Problem ist dann letztendlich, dass diejenigen, die sich die Geldstrafe nicht leisten können, dann doch im Gefängnis landen.
Was macht das mit den Menschen, die ohnehin schon am Rand der Gesellschaft stehen?
Das ist sehr unterschiedlich. Viele bringt das in noch schwierigere Lebensverhältnisse. Wer noch einen Wohnheimplatz oder eine eigene Wohnung hatte, kann diese durchaus auch wegen der Verbüßung einer Geldstrafe verlieren. Wenn jemand es gerade geschafft hat, sich etwas aufzubauen oder in Ordnung zu bringen, dann bringt das alles durcheinander – und reißt ihn in ein Loch.
Es gibt aber auch Menschen, denen die Ersatzfreiheitsstrafe schon das Leben gerettet hat. Gerade in kalten Wintern. Es gibt einige Klienten, die uns berichten, dass sie bewusst lieber in Haft gehen, wenn der Winter ansteht, weil sie dort zumindest Schlafplatz und Essen haben.
Sie haben jetzt immer in der männlichen Form gesprochen. Ist das Zufall oder sind vor allem Männer betroffen?
Es sind vor allem Männer.
Ihr Verein setzt sich ja dafür ein, die Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. Warum? Und welche Alternativen gäbe es?
Grundsätzlich kann man sagen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe eine Sanktion des Staates ist, die einfach nicht die gewünschten Erfolge erzielt. Strafe soll ja immer auch abschrecken. Aber wir haben es hier mit Menschen zu tun, die das nicht abschreckt. Diese Menschen haben derart vertiefte Problemlagen, die werden weder von der Ersatzfreiheitsstrafe noch von der Geldstrafe von der Straftat abgehalten. Es verschlimmert ihre Lage also eher. Oder zumindest verbessert die Ersatzfreiheitsstrafe sie nicht.
Da geht es um Menschen, die sozialarbeiterische Hilfen brauchen. Sie brauchen Unterstützung dabei, ihre Probleme in den Griff zu bekommen, die letztendlich dazu führen, dass sie diese Straftaten begehen. Sie brauchen Beratung, Motivation, um sich in eine Suchttherapie zu begeben oder ihre Wohnungs-, Schulden- oder Arbeitslosenproblematik in den Griff zu bekommen. Es bräuchte da also mehr sozialpädagogische oder psychologische Hilfen. Denn ein großer Anteil dieser Menschen ist psychisch enorm beeinträchtigt.
Sie gehören eigentlich in die Gesundheitsversorgung dieser Stadt, kommen dort aber nicht an. Da wäre es unser Wunsch, dass das Geld, dass man dafür ausgibt, um diese Menschen in Haft zu nehmen – und das sind ja enorme Kosten, die dem Land da entstehen – dafür nutzt, um die sozialen Hilfen und die Gesundheitsversorgung für diese Menschen zu stärken. So könnte man die Symptome, die dazu führen, dass die Menschen diese Straftaten begehen, behandeln.
Also eher Zuwendung, statt eine Strafe zu verhängen?
Zuwendung, ja. Und man müsste schauen, wie man diese Menschen, die ja nicht ganz freiwillig zu uns kommen, um sich beraten zu lassen, besser erreicht. Ein Teil reagiert ja auch auf Beschlüsse oder Androhung von Geldstrafen, die postalisch zugestellt werden, gar nicht. Diese Menschen müsste man erreichen mit niedrigschwelligen Angeboten. Viele wissen so ja gar nicht, dass ein Haftbefehl wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe gegen sie vorliegt. Die werden dann einfach eines Tages von der Polizei festgenommen. Hier bräuchte es noch einmal Zwangskontexte, die hergestellt werden, um die Leute zu erreichen.
Kann man so eine Geldstrafe auch abarbeiten? Und wenn ja, was spricht dafür?
Ja, das geht. Dafür spricht auch sehr vieles. Denn es gibt ja durchaus Menschen, die ihre Geldstrafe einfach nicht bezahlen können. Wenn sie beispielsweise schon lange in der Arbeitslosigkeit sind. Wer nicht viel Geld hat und vielleicht am Existenzminimum lebt, kann einen Antrag auf Umwandlung der Geldstrafe in freie Arbeit stellen. Dann kann man diese Tagessätze, zu denen man bei Geldstrafen verurteilt wird, tageweise abarbeiten. Das geht in einer gemeinnützigen Einrichtung. Da arbeitet man dann vier Stunden am Tag für einen Tagessatz die Geldstrafe ab.
Dadurch können viele Ersatzfreiheitsstrafen verhindert werden, aber noch lange nicht alle. Denn viele der Betroffenen sind eben so beeinträchtigt, dass sie nicht in der Lage sind, vier Stunden am Tag zu arbeiten. Geschweige denn, pünktlich irgendwohin zu kommen und sich an Regeln zu halten.
Hat man durch eine Ersatzfreiheitsstrafe automatisch eine Vorstrafe?
Nur wenn die Strafe 90 Tagessätze überschreitet. Also jemand, der jetzt das erste Mal wegen beispielsweise Fahrens ohne Fahrschein verurteilt wird, kriegt in der Regel aber keine Geldstrafe von über 90 Tagessätzen. Wer aber wiederholt auffällig wird und gegen den wiederholt Geldstrafen ausgesprochen werden, bei dem kann das durchaus auch passieren.
Am 1. und 2. Juni tagen die Justizminister der Länder. Versprechen Sie sich davon, dass die Ersatzfreiheitsstrafe verändert oder gar abgeschafft wird?
Ich glaube nicht daran, dass die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft wird. Aber was ich mir vorstellen kann, ist, weil der Bundesjustizminister selbst ja zumindest auch für die Abschaffung von Schwarzfahren als Straftat ist, dass das passiert. Dann könnte dieses Delikt in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten fallen.
Aber da muss man dann auch schauen, wie man die Menschen noch erreicht. Jetzt kommen die Leute ja noch zu uns, weil sie die Geldstrafe in Arbeit umwandeln können. Da sind wir im Gespräch. Wenn dieses Delikt eine Ordnungswidrigkeit würde, wäre das juristisch zwar zu begrüßen, sozialarbeiterisch wäre das aber schwierig, weil wir die Menschen dann nicht mehr erreichen. Mit einem Brief für eine Ordnungswidrigkeit würde keiner mehr herkommen. Die Menschen werden das einfach nicht zahlen und auch dafür kann man in Erziehungshaft genommen werden. Aber anders als bei Ersatzfreiheitsstrafen bedeutet das nicht, dass das Bußgeld nach der Haft abgelöst ist - das ist weiterhin da. Das würde zu Schwierigkeiten führen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Prieß, rbb|24.
Sendung:
"Viele Betroffene werden einfach eines Tages festgenommen" - rbb24
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