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Friday, May 7, 2021

Erfinden ohne Patente - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Industrieverbände laufen Sturm, Sozialverbände jubeln. Während London und Berlin sich verwundert die Augen reiben, begrüßen Südafrika und Indien die jüngsten Ankündigungen aus Washington. Um die Pandemie auf der Welt endlich in den Griff zu kriegen, hat sich der amerikanische Präsident Joe Biden für eine Lockerung des Patentschutzes der Corona-Impfstoffe ausgesprochen.

Eine außergewöhnliche Lage erfordert außergewöhnliche Schritte, sagt Katharine Tai, Handelsbeauftragte der USA. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält die Patente nicht für den entscheidenden Faktor zur Überwindung der Krise. Der Flaschenhals sei vor allem die komplizierte Produktion der Impfstoffe. Der Pharmakonzern Pfizer erklärt, dass der gemeinsam mit der deutschen Biontech SE entwickelte Impfstoff aus 280 Substanzen bestehe, die von 86 Zulieferern aus 19 Ländern kommen. Biontech-Gründer Ugur Sahin sagt, über Lizenzvergaben könne man reden, eine pauschale Lockerung des Urheberschutzes lehnt er aber ab.

Lange waren die Vereinigten Staaten der schärfste Verfechter dieses Schutzes geistigen Eigentums. Nun schlagen sie einen neuen Weg ein – und der ist nicht ganz ungewöhnlich. Hat es in der Geschichte doch wegweisende Entdeckungen und Erfindungen gegeben, die nicht durch Patente geschützt wurden. Wir haben einige von ihnen zusammengetragen.

Penicillin

Es war ein Zufallsfund und eine Jahrhundertentdeckung. Als der Arzt Alexander Fleming sich im Labor des Londoner St. Mary’s Hospitals mit Bakterien beschäftigte, sollte er kurz vor den Ferien im Sommer 1928 eine Agarplatte mit Staphylokokken beimpfen und zur Seite legen. Wieder aus dem Urlaub zurück, stellte er Wochen später fest, dass sich auf der Platte ein Schimmelpilz breitgemacht hatte, der den Bakterien zu Leibe gerückt war. Er nannte den bakterientötenden Stoff Penicillin und beschrieb seine Entdeckung ein Jahr später in einem Aufsatz. 1938 nahm ein Team von Wissenschaftlern um Howard Florey in Oxford sich Flemings Ergebnisse vor. Die Forscher zeigten, dass der Wunderstoff bestimmte bakterielle Infektionen heilte. Das sollte kurz darauf bei schweren Verwundungen vor allem von Soldaten im Krieg eine lebensrettende Rolle spielen.

Fleming hatte sich geweigert, seiner Entdeckung einen Patentantrag folgen zu lassen. Seine Begründung: Er habe den Pilz nur entdeckt, nicht erfunden. Sein amerikanischer Kollege Andrew Moyer sah das anders. Mit dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Antibiotika-Forschung in die USA verlagert. Dort nahm sie Fahrt auf. Moyer stellte einen Patentantrag, um die Pharmakonzerne für die Entwicklung der kostspieligen Massenfertigung zu gewinnen. Rund 20 Unternehmen stiegen ein und entwickelten Verfahren, Penicillin preiswert und industriell herzustellen. Fleming erhielt 1945 den Medizin-Nobelpreis. Moyer wurden 1948 vier Patente auf die Herstellungsprozesse zugesprochen, die kurz vor seinem Tod 1959 drei große Pharmaunternehmen kauften.

Die Daguerreotypie „Monsieur Huet“ von 1837

Die Daguerreotypie „Monsieur Huet“ von 1837 : Bild: Pierre Bergé & Associés

Fotografie

Die Fotografie ist quasi ein Geschenk von Frankreich an die Welt. Im August 1839 hatte der französische Physiker François Arago auf einer Sitzung der Pariser Akademien der Wissenschaften und der schönen Künste eine Methode vorgestellt, um die in einer Camera obscura nur flüchtig zu sehenden Abbildungen dauerhaft festzuhalten. Bilder für die Ewigkeit. Das Verfahren war von dem Maler Louis Daguerre erfunden, entwickelt und über zehn Jahre hinweg zur Reife gebracht worden. Dafür hatte er versilberte Kupferplatten verwendet. Die waren auf Hochglanz poliert, erst mit Jod und später mit Brom und Chlor bedampft. Das machte sie empfindlich gegen Licht. Die präparierten Platten schob Daguerre ins hintere Ende seiner Camera.

Am vorderen Teil fing das Objektiv über seine Linsen das einfallende Licht samt den Abbildern der Realität ein. Die zeichneten sich auf der lichtempfindlichen Oberfläche der Platte ab – kopfüber und seitenverkehrt. Diese Bilder wurden mit Quecksilberdampf fixiert. Damit hatte Daguerre eine kommerziell nutzbare Methode entwickelt, die binnen weniger Jahre das werden sollte, was heute als Fotografie bekannt ist. Trotz der Wandlungen der Trägermaterialien von versilberten Metallplatten bis zum Halbleitersensor ist das Grundprinzip seit nunmehr rund 180 Jahre das gleiche geblieben und Basis einer multimilliardenschweren Industrie. Die Rechte an dem Verfahren waren auf Initiative von Arago 1839 von der französischen Regierung gekauft worden. Sie zahlte Daguerre und dem Sohn seines schon verstorbenen Kompagnons, Joseph Nicéphore Niépce, im Gegenzug eine lebenslange Rente. So konnte das damals als Daguerreotypie bekannte Verfahren jedermann frei und unentgeltlich zur Weiterentwicklung nutzen.

Röntgenaufnahme eines Schädels

Röntgenaufnahme eines Schädels : Bild: Nevit Dilmen

Röntgenstrahlen

Im November 1895 entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg zufällig ein paar Strahlen, welche die gesamte Medizin revolutionieren sollten. Er hatte in seinem Labor seit Wochen schon mit luftleeren Glasröhren experimentiert. Beim Anlegen einer hohen elektrischen Spannung konnten die Röhren eigenartig leuchten. Plötzlich fiel Röntgen ein Stück Papier auf. Er hatte es zuvor mit einer fluoreszierenden Farbe bestrichen, die nun leuchtete – und das, obwohl das Labor abgedunkelt und auch die sogenannte Kathodenröhre mit schwarzen Pappen abgedeckt war. Von der Röhre mussten unsichtbare Strahlung ausgehen. Röntgen nannte sie „X-Strahlung“. Bald fand er heraus, dass sie etwa von Metall blockiert wurden, von Holz, Papier oder auch Fleisch aber kaum zu bremsen waren. Röntgen strahlte nun auch Fotoplatten an und stellte fest, dass auch sie reagierten.

Es ließen sich also Bildaufnahmen machen. So bestrahlte er unter anderem eine Viertelstunde lang die Hand seiner Frau Anna Bertha. Die Gewebsschichten waren nur vage, die Knochen samt Ehering aber deutlich zu sehen. Ende Dezember 1895 reichte Röntgen einen Aufsatz über diese Entdeckung ein. In der Presse verbreitete sich die Nachricht über die ominösen Strahlen rasch. Schon drei Wochen nach den ersten Berichten bot eine Firma in Berlin die sogenannten Röntgenröhren zum Verkauf an. Ein Arzt in Chicago bestrahlte Krebsgeschwüre mit diesen Röhren. Nach einem Jahr hatten medizinische Einrichtungen in aller Welt entsprechende Strahlenuntersuchungen in ihren Programmen. Röntgen wollte diese Entwicklung nicht bremsen und verzichtete auf die Patentierung seiner Entdeckung. Sie sollte allen, die sie anwenden wollten, offenstehen. 1901 wurde er zum ersten Preisträger des Nobelpreises für Physik. Röntgengeräte wurden ein Pfeiler der Medizintechnik.

Karaoke

Es ist 50 Jahre her, dass Daisuke Inoue als Schlagzeuger in einer Band spielte. Die trat in einer Kneipe in Kobe auf, einer japanischen Hafenstadt, in der schon Instant-Nudeln und Fließband-Sushi erfunden worden waren. Inoue fügte eine weitere Erfindung hinzu. Eines Abends im Jahr 1971 bat ein Gast die Band, mit ihm auf Reisen zu Kunden zu gehen. Dort sollten sie für abendliche Stimmung sorgen. Die Musiker weigerten sich. Inoue tat das leid. So nahm er für den Gast ein Tonband auf. Instrumentalstücke in mittlerer Tonlage, zu der auch Laien gut singen konnten. Inoue entwickelte und baute die erste Karaoke-Maschine, bestehend aus einem Rekorder, ein paar aufgenommenen Instrumentals, Mikrofon, Textbuch, Lautsprecher und einem Verstärker mit Münzeinwurf. So konnte man über die Aufnahmen der Instrumente die eigene Singstimme legen. Tonband und Tonkopf waren so präpariert, dass jeder Titel einzeln anwählbar war. Playback-Singen für jedermann.

Tim Berners-Lee

Tim Berners-Lee : Bild: Reuters

Das kam an: Kneipen und Bars leasten die Maschine. Inoue gründete eine Firma und stellte über die kommenden Jahre 25000 Geräte her. Später ersetzte ein Videobildschirm das Textbuch und eine CD das Tonband. Inoue verdiente im Jahr rund eine Viertelmillion Euro. Heute ist Karaoke ein riesiger Markt. Allein in Asien gibt es Hunderte Anbieter mit einem Jahreserlös von 6 Milliarden Euro. Doch Inoue macht damit kein Geld. Denn er hat sich für seine Maschine zwar die Vertriebsrechte, nicht aber das Patent sichern lassen. Der Grund: Es hätte die Weiterentwicklung und Verbreitung der Maschine behindert. So erklärte das Time Magazine Inoue zu einem der „einflussreichsten Asiaten des 20. Jahrhunderts“. Hat er doch nicht nur eine neuartige Musikmaschine erfunden, sondern eine ganze Kultur.

Streichholz

Ein paar dünne Holzstäbchen mit einer besonderen Kuppe, eine kleine Schachtel mit einer groben Reibefläche - und jedermann kann sich zum feuerbringenden Prometheus aufschwingen. Im November 1826 stellte der als etwas extrovertiert geltende englische Apotheker John Walker fest, dass er zwischen seinen Fingern ein Feuer entstehen lassen konnte, wenn er das Ende eines Hölzchens entsprechend präpariert und mit einer Mischung aus Antimon-Sulfid, Kaliumchlorat, Gummiarabikum und Stärke überzogen hatte, sie dann trocknen trocken ließ und schließlich an einem Glaspapier rieb.

Im April 1827 verkaufte er seine „Friction Lights“ zum ersten Mal in seinem Laden im nordenglischen Stockton-on-Tees. Eine Zinndose mit hundert Stück. Die Wunderhölzchen sprachen sich rasch rum und wurden ein voller Erfolg. Walker sah es nicht als erforderlich an, sich die Reibelichter patentieren zu lassen. Diese Schritt ging einer seiner Kunden: Samuel Jones aus London. Er ließ Walkers Erfindung unter seinen Namen mit der Nummer 6335 als Reibzündhölzern patentieren. Unter der Marke "Lucifers" brachte er sie groß raus. Walker machten die Geschäfte von Jones nichts aus. Er hatte noch weitere Hobbys. Als Apotheker verdiente er mit seinen Mixturen und Dienstleistungen so gut, dass er sich das leisten konnte, was er auch wirklich wollte. Darüber hinaus genoss er unter den Bürgern seiner Heimatstadt ein hohes Ansehen. Mehr brauchte er nicht zum Glück.

World Wide Web

Im März 1989 stellte der britische Physiker Tim Berners-Lee an der Schweizer Forschungseinrichtung CERN ein System zur Verknüpfung digitaler Daten vor, das die Welt auf den Kopf stellte. Er hatte es mit seinem belgischen Kollegen Robert Cailliau entworfen. Sie wollten Datenmengen so organisieren, dass die Forscher faktisch mit wenigen Mausklicks Zugang zu ihnen erhalten. Berners-Lee und Cailliau wollten ein Netz von Rechnern kreieren, das frei zugänglich, für jedermann nutz- und leicht bedienbar ist. Es sollte verschiedene Dokumente miteinander verknüpfen, digital erfasste Informationen gliedern und Daten austauschen. Jedes Dokument erhielt eine eindeutige Adresse, den sogenannten Uniform Resource Locator (URL).

Um die Dokumente zu verknüpfen, führten sie Hyperlinks ein. Als verbindende Sprache wurde die HyperText Markup Language (HTML) entwickelt. Was zunächst nur den Austausch von Forschungsergebnissen erleichtern sollte, wurde viel mehr. Im Herbst 1990 hatte Berners-Lee dem Plan handfeste Taten folgen lassen. Er schrieb das erste Web-Anzeigeprogramm, nannte es „World Wide Web“ und konnte so mit Texten, später auch mit Grafiken und Bildern arbeiten. Neben E-Mail und File-Transfer (FTP) ist das World Wide Web so der meistgenutzte Dienst des Internets geworden. Ganz Wissenschaftler, hat sich Berners-Lee seine Erfindung nie mit einem Patent und den daraus wohl folgenden Einnahmen vergolden lassen. Ein Geschenk an die Menschheit.

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